1.11 — Audax es uir iuuenis

Audax es, uir iuuenis
(ed. M. P. Bachmann - S. Barrett)


Siglenverzeichnis

Br Bruxelles, Bibliothèque Royale Albert Ier, 8860-67 (1351), ff. 26v-27v (ca. 3. Viertel des IX. Jh.s).1
Ca Cambridge, University Library, Gg.V.35, f. 437ra-rb (XI. Jh.).2
Bulst Carmina Cantabrigiensia. Textausgabe von Walther Bulst, Heidelberg 1950. [Edition: Nr. 18, S. 41-5]
Col Andy Orchard, The verse-extracts in the Collectanea, in: Collectanea Pseudo-Bedae. Edited by Martha Bayless and Michael Lapidge, Dublin 1998 (Scriptores Latini Hiberniae 14). [S. 84-100, Edition: 92-97].
Kö1 Köln, Erzbischöfliche Diözesan- und Dombibliothek, 106, f. 17r-v (IX. Jh.).3
Pa3 Paris, Bibliothèque Nationale de France, lat. 1928, ff. 170v-171r (XI./XII. Jh.).4
P Paris, Bibliothèque Nationale de France, lat. 16668, f. 22r-v (IX. Jh.).5
PL Patrologiae Cursus Completus XCIV Venerabilis Bedae. Accurante Jacques-Paul Migne. Paris 1850.
Sg4 Sankt Gallen, Stiftsbibliothek, 1395, f. 468 (1. Viertel des IX. Jh.s).6
Strecker 1 Poetae Latini Aevi Carolini IV, 2. Recensuit Karolus Strecker, Berlin 1914 (Monumenta Germaniae Historia. Poetae Latini Medii Aevi 4,2) [Unv. Nachdruck München 1978]. [Edition: Nr. 14, S. 495-500].
Strecker 2 Die Cambridger Lieder. Herausgegeben von Karl Strecker, Berlin 1926 (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum separatim editi 40) [2. unv. Aufl. bzw. 3. unv. Aufl., Berlin 1955 bzw. 1966]. [Edition: Nr. 18, S. 51-6].
Tr Trier, Bistumsarchiv, Abt. 95 Nr. 133c, p. 56 (XI./XII. Jh.).7
Ve Verona, Biblioteca Capitolare, XC, ff. 12r-14r (ausg. IX. Jh.).8
Wi1 Wien, Österreichische Nationalbibliothek, 11857, f. 244r-v (XV. Jh.).
Ziolkowski The Cambridge Songs (Carmina Cantabrigiensia). Edited and translated by Jan M. Ziolkowski, New York-London 1994 (Garland Library of Medieval Literature. A. 66) [Edition und Übersetzung: Nr. 18, S. 76-83, Kommentar: S. 225-7].

Vorbemerkungen zur Edition
Die Editionsgeschichte des vorliegenden Rhythmus9 ist durchaus bemerkenswert. Im Folgenden skizziere ich kurz die einzelnen Etappen:

Die Textkonstitution des Rhythmus orientiert sich an den überlieferten Textzeugen, beruht aber nicht ausschließlich auf einer Handschrift oder Handschriftenfamilie. Die wohl ältesten erhaltenen Überlieferungsträger (Sg4 aus der Zeit des Übergangs vom 8. zum 9. Jahrhundert oder aus dem ersten Viertel des 9. Jahrhunderts und Kö1 aus den Anfängen des 9. Jahrhunderts) deuten darauf hin, dass sie nicht als Original anzusehen sind. Sg4 ist zum einen unvollständig - obwohl der Platz für weitere Strophen vorhanden gewesen wäre - und zum anderen wurde der Text des Rhythmus auf das Quartblatt 468 geschrieben, was darauf schließen lässt, dass dieser nachträglich in die Handschrift eingefügt wurde. Dagegen ist der Rhythmus in Kö1 vollständig überliefert. Hier ist auffällig, dass der Codex durchaus wesentlich abweichende Varianten aufweist, die in dieser Form in den anderen Handschriften nicht zu finden sind.13 Im Übrigen habe ich mich auch an den anderen beiden vollständig überlieferten Codices (Ca und Pa3) orientiert.
Sowohl die Strophenform (vier Zeilen - grundsätzlich - à 8 Silben mit einem zweizeiligen Refrain, der sich auf eine liturgische Formel bezieht: «Adtende quia pulvis es») sowie die Anfänge der Strophe (Abecedarius) als auch die Rhythmik, bei der zwar in der erster Linie betonte Schlüsse vorherrschen, aber auch unbetonte zu finden sind, bestätigen die Vermutung, dass die Entstehungszeit des Rhythmus in die merowingische Zeit zu legen ist.14
Der Refrain der ersten Strophe ist in fast allen Handschriften ausgeschrieben: «Adtende, homo, quia puluis es et in puluerem reuerteris».15 Im Weiteren werden in aller Regel nur Adtende homo oder Adtende oder sogar Ad vermerkt.16 Die Ausnahme hiervon ist der Kodex Kö1, in dem für die zweite Strophe ein anderer abwechselnder Refrain zu finden ist: «Adtende, homo, quia d&erra factus es et in terra ponendus eris», wobei die Handschrift Ve - mit ziemlicher Sicherheit - («... et in ter... ...ris») und Wi1 («Attende, homo, quod e terra factus es et in terra ponendus eris») auf jeden Fall auch diese Variante aufweisen.17 Es ist davon auszugehen, dass - jedenfalls für diese drei Handschriften - somit auf einen wechselnden Refrain verwiesen werden sollte.18 An einigen Stellen der Codices wurde auf den Adtende-Verweis gänzlich verzichtet, meist wegen fehlenden Platzes, oder dieser wurde in freigebliebenen Lücken anderer Zeilen bzw. am Rand eingefügt.19
Der Appendix gebe ich den Text des Rhythmus bei, der in einem Lorscher Codex, heute Paris, BNF, lat. 16668 (9. Jh.), in Hexameter umgeformt wiedergegeben ist. Da die Varianten zu dem Abecedarius zu unterschiedlich und aufgrund metrischer Zwänge zu umfangreich sind, habe ich es vorgezogen, den Text in der Appendix abzudrucken, auch um den kritischen Apparat der Edition zu entlasten. Legdiglich Strecker 1 hat ebenfalls die hexametrische Version (am Ende seiner Edition des Rhythmus) abgedruckt.20 Es wird der Text der Handschrift wiedergegeben, wobei im Apparat die Konjekturen von K. Strecker, W. Meyer und F. Vollmer vermerkt werden. In den meisten Fällen orientiere ich mich an seiner Edition.
Bemerkenswert ist der Umstand, dass der Rhythmus Audax es inhaltlich den hier abgedruckten Hexametern zu Grunde gelegen hat. Es ist zu fragen, warum der Autor einen Rhythmus in eine hexametrische Version gebracht hat. M. E. scheidet eine liturgische Motivation aus. Vielmehr ist an einen schulischen bzw. übungsbedingten Hintergrund zu denken. Darüber hinaus ist auch zu berücksichtigen, in welchem metrischen Kontext sich diese Hexameter in der Pariser Handschrift (lat. 16668) befinden: f. 1-20b: De arte metrica des Beda; f. 21a-22a: De Enoch et Haeliae; f. 22a-22b: Audax es iuvenis [Hexameterversion]; f. 22b-23a: zwei weitere Dichtungen in Hexametern; f. 23a-39a: Expositio metrica De virginitate des Aldhelm21. In jedem Fall ist davon auszugehen, dass die Hexameterversion sich an ein anderes, vielleicht anspruchvolleres Publikum gerichtet hat.
Im kritischen Apparat gebe ich ausdrücklich nur diejenigen Varianten der modernen Editionen an, die nicht von der zu Grunde liegenden Handschrift herrühren, sondern eindeutig auf den Eingriff des Editors zurückgehen. So z. B. die Collectanea Pseudo-Bedae, von denen kein handschriftlicher Überlieferungsträger mehr vorhanden ist und die das erste Mal von Johannes Herwagen in den Opera Bedae Venerabilis presbyteri Anglosaxonis (Band III) in Basel 1563 ediert wurden. Diese Edition wurde dann von Jacques-Paul Migne 1850 in seine Patrologia Latina, Band 94, aufgenommen. Im Jahre 1998 wurde eine Neuedition der Collectanea von Martha Bayless und Michael Lapidge vorgelegt.22 Für diesen Fall gebe ich die Varianten in PL und Col nur an, sofern sie sich nicht auf eine Handschrift stützen oder Unterschiede zwischen PL und Col festzustellen sind. Gleiches gilt für Bustl, Strecker 1, Strecker 2 und Ziolkowski.
In der Edition habe ich durchgehend eine einheitliche mittelalterliche Schreibweise einiger Wortformen eingeführt, die zum einen zwischen den Handschriften divergieren und zum anderen teilweise auch innerhalb einer Handschrift nicht stringent eingehalten wurden. Ich gebe hier eine kurze Übersicht, um u. a. auch den textkritischen Apparat übersichtlich zu halten, so zum Beispiel: iouenis (1, 1: Sg4); menbra (1,4: Sg4 5,4: Sg4 Tr);quaeris (7, 1: Br); cęlo (7, 4: BrKö1); pręsumpsisti (8, 2: Br); poena (8, 3: BrCa); diabulo (13, 3: Kö1); quae (14, 2: Kö1Pa3); quę (14, 2: Wi1); pręcepta (14, 2: Wi1) und lętabitur (23, 3: Kö1Wi1). Die neuzeitlichen Schreibweisen, beispielsweise in PL, Strecker. 1 oder auch Strecker. 2, die sich in erster Linie auf die eben aufgeführten Stellen und Worte beziehen, werden von mir ebenfalls nicht im Apparat angegeben. Darüber hinaus werden - zumindest für die Edition des Rhythmus - durchgehend v auch als u und oe bzw. ae als e angegeben.
Für detaillierte Handschriftenbeschreibungen verweise ich in erster Linie auf die in den Anmerkungen des Siglenverzeichnisses angegebene Literatur. Einige Bemerkungen zu Auffälligkeiten bzw. Abhängigkeiten innerhalb der Überlieferungsträger werde ich jedoch hier geben.
Die Handschrift Wi1 aus dem 15. Jahrhundert gehört in jedem Fall der gleichen Handschriftenfamilie wie Kö1 an. Bis auf wenige Ausnahmen23 sind in Kö1 und Wi1 die gleichen Textvarianten zu finden. Die übrigen Abweichungen zwischen diesen beiden Handschriften sind auf Verbesserungsversuche oder mangelnde Aufmerksamkeit des Kopisten zurückzuführen24. Insoweit werden im textkritischen Apparat die Varianten von Wi1 nur verzeichnet, soweit sie von Kö1 abweichen.
Des Weiteren ist auffällig, dass der Text in Br und Sg4 fast an der gleichen Stelle abbricht: nämlich in Sg4 nach der dritten Zeile der 13. Strophe 13 und in Br nach der vierten Zeile der gleichen Strophe. Darüber hinaus ist beiden Handschriften eine Besonderheit eigen, die sich auf die Strophe 11 bezieht. In Sg4 fehlt diese völlig, wohingegen in Br eine völlig anderer Text eingefügt worden ist. Hieraus könnte man den Verdacht erhärtet sehen, dass Br und Sg4, wenn nicht unmittelbar, so doch mittelbar verwandt miteinander sein könnten. Das könnte durch die gemeinsamen Lesarten bestätigt werden.25 Eine unmittelbare Abhängigkeit der beiden Handschriften läßt sich jedoch durch die substanziell unterschiedlichen Varianten ausschließen.26 Im Ergebnis läßt sich eine nicht zu nahe Verwandtschaft der beiden Codices annehmen.27
Bei Ve handelt es sich - zumindest von f. 6r bis 21v, auf denen sich der Rhythmus befindet - um reskribierte Blätter. Soweit die Schrift noch lesbar ist, läßt sich eine deutliche Nähe zu den anderen Überlieferungsträgern nicht mit Bestimmtheit feststellen. Abgesehen davon, dass die letzten beiden Strophen des Textes fehlen, ist zu bemerken, dass Ve an einigen Stellen eigenständige Varianten hat, die so in den anderen Handschriften nicht zu finden sind.28 In anderen Fällen sind die Lesarten identisch einmal mit dem einen Codex, ein anderes Mal mit einem anderen.29
Pa3 ist die einzige Handschrift, in der die erste Strophe des Rhythmus mit Neumen versehen wurde. Im Vergleich zu den anderen Codices hat Pa3 an einigen Stellen völlig abweichende Lesarten, die gegen eine enge Verwandtschaft zu den anderen Überlieferungsträgern sprechen. Abgesehen von dem Titel des Rhythmus (Uersus Bedae Presbiteri) in Pa3 - im Übrigen die einzige Handschrift, die den Text mit Beda in Verbindung bringt - sind folgende Varianten auffällig: Strophe 2, 3: ueniet statt venitque; 6, 4: amorem libidinum statt z. B. amorem libidinem; 7, 4: prospicit statt conspicit; 11, 2: perpetuum statt iudicio; 11, 3: ualent lacrime statt ualet gemitus; 12, 2: seculo statt corpore; 14, 3: se adulterat statt adulterant; 16, 4: et statt ut; 18, 2: et statt ut; 18, 3: vero statt z. B. veram; 19, 1: adueniet statt z. B. ueniet; 19, 3: unicuique statt singulis; 20, 3: nec iuuat statt z. B. ut non adiuuet; 22, 3: humilis statt humilitas; 23, 1: bonum habet et obtimum statt habet optimum; 23, 4: gaudet statt z. B. uiuet und schließlich wird in Strophe 21 die Strophe 19 fast wörtlich wiederholt.

Bemerkungen zu linguistischen und rhythmischen Aspekten
Wie schon kurz angedeutet besteht der Rhythmus aus vier Zeilen - grundsätzlich - à 8 Silben (4#8i) mit einem zweizeiligen Refrain, der sich auf eine liturgische Formel («Adtende quia pulvis es») bezieht. An manchen Stellen ist dieses Schema nicht stringent durchgehalten, was aber weder gegen die merowingische Herkunft - vielleicht sogar gerade dafür - noch für das mangelnde rhythmische Gefühl des Dichters spricht. Norberg hat dieses Phänomen schon in seiner Abhandlung über die mittellateinischen Rhythmen festgestellt und versucht zu strukturieren.30 Er weist darauf hin, dass der Dichter grundsätzlich versucht hat, den antiken iambischen Diameter nachzuahmen. Jedoch ist es diesem nicht immer gelungen. Öfters wurde die erste, meist unbetonte Silbe der Zeile weggelassen. Norberg warnt auch davor, bei der Edition dieser Texte nun eine Silbe hinzuzufügen, um die Struktur einzuhalten. Im Zweifel hatte der Dichter dies schon nicht gemacht.31 Diesem Rat folgend werden sich im Text des Rhythmus einige Zeilen mit nur sieben Silben befinden.32 Auch das gegenteilige Phänomen, dass an Stelle von acht Silben neun-silbige Verse zu finden sind, fällt nicht aus der Reihe. Norberg hat diese Variante schon bemerkt und versucht zu begründen.33 Im Ergebnis listet er einige Beispiele für die neun-silbige Variante auf, die sich seiner Meinung nach - in erster Linie im Frühmittelalter, «quand l'école médiévale n'était pas encore réformée»34 - häufiger nachweisen läßt. Auch in unserem Beispiel tritt an einigen Stellen diese Variation auf.35 Im Ergebnis konnte ein Vers eines Rhythmus, auch wenn er ein Silbe mehr oder weniger hatte, nach der gleichen Melodie wie die Verse mit acht Silben gesungen werden.
Der Endreim des Rhythmus folgt keiner strickten Regel. Öfters ist er einsilbig (Refrain und Strophe 1, 1-2; 6, 3-4; 9, 3-4; 12, 3-4; 18, 3-4), meist zweisilbig (Strophe 1, 3-4; 2, 1-2; 4, 1-2 und 3-4; 14, 3-4; 21, 1-2; 22, 1-2; 23, 1-2 und 3-4), oder sogar dreisilbig (Strophe 6, 1-2; 8, 3-4; 13, 1-2; 15, 3-4; 16, 3-4; 17, 1-2; 18, 1-2; 21, 3-4).36 Sog. Assonanzen finden sich z. B. in Strophe 1, 3-4; 2, 3-4; 6, 3-4; 9, 1-2 und 20, 3-4.
Es ist darauf hinzuweisen, dass an vier Stellen metrische Wortkonstruktionen verwendet wurden: secútus-es (Strophe 6, 3), nón-curas (Strophe 7, 3), témpus-est (Strophe 11, 1) und légis-sunt (Strophe 14, 1). Im Übrigen ist auffällig, dass in Strophe 15 zwei Mal ein Akzentverschiebung von p zu pp vorgenommen wurde: Zeile 3 (commíttuntur) und 4 (remíttuntur). Neben einigen Hiaten (im Refrain und in den Strophen 2, 1, 4; 4, 2; 5, 4; 6, 4; 7, 2; 8, 2; 11, 4; 12, 2; 13, 4; 14, 1, 3; 15, 1; 16, 2; 18, 3; 19, 4; 21, 1, 3 und 23, 1, in 23, 2 vermieden durch Elision) hat sich der Dichter auch der sog. Synizese bedient, so z. B. in Strophe 4, 2 (labia); 7, 1 (gloriam); 10, 1 (foueam); 19, 1 (ueniet); 20, 1 (ueniet); 20, 2 (districtio); 20, 3 (filium); 20, 4 (filius) und 21, 2 (eum). Eine Art Dihärese ist in Strophe 8, 4 zu finden: cu-i, das als zweisilbig zu werten ist.37
Innerhalb den phonetisch-graphemischen Besonderheiten des Textes sind zum einen die in einigen Handschriften vertretene Schreibweise des e für ae oder oe38 und zum anderen das Auswechseln einiger Konsonanten, um die Struktur des Abecedarius einzuhalten, zu erwähnen. Für Letzteres ist auf die Strophen 10, 1 (Karo); 21, 1 (Xristus) und 22, 1 (Fides) zu verweisen.39
Unter syntaktischen Gesichtspunkten sind besonders diejenigen Auffälligkeiten (auch in den Handschriften) zu vermerken, welche in erster Linie die Tempuslehre und die Genera verbi betreffen. Hier ist zunächst die Verwendung der präsentischen Form an Stelle des Futurs bzw. des Perfekts anzuzeigen: Strophe 2, 3 (uenitque; ueniet Pa3); 19, 1 (ueniet; uenit Kö1 Ve, adueniet Pa3); 19, 3 (reddet; reddit Ca Kö1); 20, 1 (ueniet; uenit Ca Kö1 Ve); 20, 3 (adiuuet; adiuuat Ca, nec iuuat Pa3) bzw. Strophe 18, 1 (suscipit; suscepit Ca). An anderer Stelle wurde zum Beispiel die präsentische bzw. die konjunktivische Form verwendet, obwohl ein Futur angezeigt gewesen wäre (vgl. Strophe 9, 3: relinquis Ca Kö1, relinquas Br → relinques Sg4 Tr Ve und Strophe 10, 2: moriaris Ca Tr Wi1 → morieris Kö3, wobei sich Br Sg4 Ve wohl der aktivischen Nebenform bedient haben40: morias Br, moreas Sg4 -2. Konjugation (!)-, mories Ve). Beispiele für die Verwendung der passiven statt der aktiven Form sind in den Strophen 3, 1 (consentieris Tr → consentias Br Sg4, consenties Kö1, consendens Ve) und 3, 3 (flecteris Ca Kö1 Pa3 Tr → flectis Br) zu finden. Für ein gegenteiliges Phänomen ist auf Strophe 4, 2 zu verweisen, wo eine aktive statt der erwartenden passiven Form zu finden ist: exasperantexasperantur.

Entstehungszeit, Autor und Zielpublikum
Wie oben schon gesagt, deuten vor allem die Strophenform, die Art des Abecedarius und die Rhythmik daraufhin, dass der Text in der merowingischen Zeit entstanden sein muss. Chevalier grenzt dagegen die Zeit auf das beginnende neunte Jahrhundert ein.41 Schaller/Könsgen legen die Entstehungszeit in den Übergang vom siebten zum achten Jahrhundert.42 Ebenso datieren Dekkers/Gaar im Clavis Patrum Latinorum den Text in die merowingische Zeit, wobei sie jedoch die Abfassungszeit zwischen «Chilpericus rex (obiit anno 584)» und «Sisbertus Toletanus (saec. VII exeunte)» vermuten.43 Becker schließlich stellt die Frage in den Raum, ob es sich bei dem Rhythmus vielleicht sogar um ein «Stück iroschottischer Überlieferung auf dem Kontinent» handeln könnte, das «schließlich in Sankt Gallen einmündet».44
Einzig in der Pariser Handschrift Pa3 aus dem 11. bzw. 12. Jahrhundert findet sich der Hinweis auf einen möglichen Autor: hier trägt der Rhythmus die Überschrift Versus Bedae presbiteri. In der Basler Edition von Johannes Herwagen aus dem Jahre 1563, die von Jacques-Paul Migne in die Patrologia Latina (94, 558-9) aufgenommen wurde, wird der Text als ein Werk Bedas herausgegeben. Schon Migne hat seine Zweifel über die Authentizität des Werkes gehabt und hat es unter den Opera dubia (Ascetica dubia) des Beda abgedruckt. Bemerkenswert ist allerdings, dass sich der Hinweis auf Beda in einem Textzeugen befindet, der innerhalb der Überlieferungslage als recht jung anzusehen ist. Die anderen Handschriften aus dem IX. Jahrhundert enthalten keine Autorenangabe, obwohl sie wesentlich näher an der Entstehungszeit liegen. Auch in der heutigen wissenschaftlichen Diskussion wird immer noch problematisiert, inwieweit Beda sich überhaupt literarisch mit dem Jüngsten Gericht auseinandergesetzt hat. [nota!: Vgl. u. a. Lapidge, Bede, S. 103.]45 Insoweit lassen sich weitere Anhaltspunkte für den Verfasser des Rhythmus nur aus dem Kontext des Textes erschließen. Die hauptsächlich biblischen Anspielungen und der Refrain, der einer liturgischen Formel ähnelt, weisen darauf hin, dass es sich bei dem Autor um einen Kleriker oder einen Mönch, gehandelt haben muß. Die deutlichen Aussagen, wie z. B. das Leben ist kurz (Strophe 2), der letzte Tag bzw. der Erlöser wird kommen (Strophe 2 bzw. 15), um über die Menschen je nach ihren Verdiensten zu urteilen (Strophe 19), lassen den geistlichen Ursprung des Textes erahnen. Der pathetisch-moralische Ton, mit dem der iuvenis angesprochen wird,46 soll diesem die weltlichen Versuchungen plastisch vor Augen führen und ihn zu einem christlichen Lebenswandel auffordern, den Gott immer belohnen wird. Der Verfasser bedient sich keiner abgehobenen theoretisch-theologischen Sprache, sondern versucht mit einfachen Worten und Bildern, seine theologischen Gedanken auszudrücken. Löwe geht soweit zu sagen, dass diese Gesangsdichtung «zur wirkungsvollen Unterweisung junger Menschen» bestimmt gewesen ist, «die auf den geistlichen Stand vorbereitet werden sollen».47 Man denke also an einen Text, welcher der Novizenausbildung bzw. deren Hinführung zum klösterlichen Leben dienen sollte. Insoweit mag auch die Frage nach dem Publikum dieses Rhythmus beantwortet sein.


1 Für eine detaillierte Handschriftenbeschreibung vgl. van den Gheyn, Catalogue des manuscrits, S. 289-92 sowie Dümmler, Überlieferung, S. 155-8, Bischoff, Katalog, S. 156 und Bourgain, Recueils, S. 125-5.
2 Vgl. Cambridge Catalogue, S. 201-5, sowie Strecker, Cambridger Lieder, S. VII-XI.
3 Vgl. Jaffé - Wattenbach, Codices, S. 43-4 und Jones, Cologne, S. 27-61.
4 Vgl. Lauer, Catalogue, S. 244-5.
5 Vgl. das Vorwort von Ehwald (ed. 1919) zu Ehwald: Aldhelmus. Opera, S. 339-41.
6 Vgl. Scherrer, Handschriften von St. Gallen, S. 461-4 sowie Vitali, Frammento Sangallense 1395, S. 313-8.
7 Vgl. Hoffmann, Buchkunst, S. 506, siehe auch die etwas knappe Beschreibung in den «Analecta Bollandiana»: Catalogus codicum, S. 271-2.
8 Vgl. Dümmler, Überlieferung, S. 152-5, Strecker, Reskribierte Blätter, S. 773-7, ebenso Bourgain, Recueils, S. 123-4 und schließlich Bottiglieri, Codici veronesi, S. 276-8. Zum Inhalt der Handschrift siehe auch Steinen, Anfänge, S. 254-6 sowie Spagnolo, Biblioteca capitolare, S. 163-7.
9 Vgl. auch WIC, S. 86 (Nr. 1687) sowie CPPM, S. 722 (Nr. 3186) und Mearns, Early Hymnaries, S. 11.
10 Neudruck Aalen 1964. Bereits von H. A. Daniel nachgedruckt, in Thesaurus Hymnologicus IV, Leipzig 1855, S. 132-4.
11 Unveränderter Nachdruck München, 1978.
12 2. bzw. 3. unveränderte Auflage Berlin 1955 bzw. 1966.
13 Vgl. z. B. Strophe 2, 2: perpende (considera Br Ca Pa3 Sg4 Tr Ve); 3, 4: diceptus permanes (deceptus remanes Br Pa3 Tr, deceptus remanens Sg4, deceptus rem... Ve); 5, 1: eleuans (eleuas Ca Pa3 Tr Ve, eleua Br); 7, 3: cupis (curas Br Ca Pa3 Tr Ve); 11, 4: nulla (ulla Br Ca Pa3), 13, 2: cupiditas (fragilitas Br Ca Sg4, frangilitas Ve); 17, 2: homo tuam maliciam (mentis tue maliciam Ca Pa3, mentis tue malitia Ve); 17, 4: tempus pereat (finis ueniat Ca Pa3 Ve); 18, 4: maculat (macerant Ca, macerat Pa3); 19, 2: populum (seculum Ca Pa3 Ve), uenit Christus ad iudicium (uenit dies iudicii Ca Ve, ueniet dies iudicii Pa3). Hierzu vgl. auch Stella, Problemi, S. 246-8.
14 Vgl. hierzu auch Becker, Literaturgeschichte, S. 107-8.
15 Adtende] Attende Pa3 Wi1. Adtende homo] S. Adtende ... ... puluerem reverteris] Ve.
16 Adtende homo] Kö1 Pa3 (Strophe 16, 17, 20 - 23), Ad Br Pa3 (Strophe 15, 18) V (Strophe 8, 9, 10), Adtende Ca Kö1 (Strophe 3, 7, 14-23) Pa3 (Strophe 14) Sg4 Tr, Attende homo Pa3 Wi1, At Pa3 (Strophe 11-13), Adtendit Ve, Attende Wi1 (Strophe 7, 14-23).
17 Strecker 1 gibt dies auch so in seiner Edition des Rhythmus wieder, wohin gegen Strecker 2, Bulst Ziolkowski den Refrain immer auf «Adtende, homo, quia pulvis es et in pulverem reverteris» beziehen.
18 Vgl. zum wechselnden Refrain auch Haubrichs, Georgslied, S. 182-6.
19 So in Br (Strophe 4), Ca (Strophe 22), Sg4 (Strophe 5, 7-10, 12), Tr (Strophe 7), Wi1 (Strophe 3) bzw. in Kö1 (Strophe 3) am Rand oder meist über der Zeile, wie in Ca (Strophe 15, 20-13 Zeilen darüber!-) und Tr (Strophe 3, 5, 6, 8), wobei in Ca auch einmal ein Beispiel für den Verweis zu finden ist, der unter der Zeile geschrieben wurde (Strophe 7).
20 Vgl. Strecker 1, S. 500-1.
21 Vgl. hierzu Ehwald, Aldhelmus. Opera, S. 340-1. 22 Für die genauen bibliographischen Angaben vgl. das Siglenverzeichnis.
23 In Strophe 1, 6 gibt W cinerem statt puluerem (Kö1) und in 14, 1 diligis statt intelligis.
24 Vgl. Strophe 2, 1: breuis (Kö1) → breve (Wi1), 2, 3: ultimus (Kö1) → ultima (Wi1), 3, 3: flecteris ad libidinem (Kö1) → ad libidinem flecteris (Wi1), 3, 4: diceptus (Kö1) → deceptus (Wi1), 4, 3: et labia tua exasperant (Kö1) → et exasperant tua labia (Wi1), 4, 4: in tua uita (Kö1) → in uita tua (Wi1), 7, 2: laudem humanam (Kö1) → laude humana (Wi1), 8, 1: transitoriam (Kö1) → transitorium (Wi1), 8, 4: maiora (Kö1) → maior (W), 10; 1: te traxit (Kö1) → traxit te (Wi1), 10, 2: morieris (Kö1) → moriaris (Wi1), 10, 4: ueniet (Kö1) → uenit (W), 15, 3: quod (Kö1) → quibus (Wi1), 18, 4: carnem suam (Kö1) → carne sua (Wi1), 19, 4: sua opera (Kö1) → opera sua (Wi1), 21, 1: serue (Kö1) → serui (Wi1), 21, 4: securus sis de crimina (Kö1) → sis securus de crimine (Wi1).
25 Für die gleichen Varianten vgl. audenter (Strophe 1, 3), breuis (2, 1), moreris (2, 2), carnem tuam (3, 1), consentias (3, 2), eleua (5, 1), est (6, 3), et libidinem (6, 4), honor tradidit/transit aurea (8, 1), finis (10, 4).
26 Abgesehen von dem Refrain in der ersten Strophe, der in Br ausgeschrieben wurde, in Sg4 jedoch nicht, wird auf die verschiedenen Lesarten z. B. in Strophe 2, 3 (ultimus Br, ultimis Sg4), 2, 4 (perdis Br, perdes Sg4), 3, 2 (decipit Br, decipias Sg4), 3, 3 (flectis Br, flecteris Sg4), 4, 1 (tui Br, tua Sg4), 6, 3 (qua multum secus est Br, quem multum secutum est Sg4), 7, 3 (placare Deo non curas Br, placere Deo non cupis Sg4), 9, 3 (relinquas Br, relinques Sg4), 10, 1 (morias Br, moreas Sg4), 13, 1 (frangat Br, tangat Sg4) verwiesen.
27 Vgl. für dieses Ergebnis auch Vitali, Frammento Sangallense 1395, S. 314-7.
28 Siehe hierzu Strophe 3, 1: consendens (consentias Br Sg4, consentiens Ca Pa3, consenties Kö1, consentieris Tr), 7; 2: humanas (humanam Ca Kö1 Pa3 Tr), 7, 4: fehlendes qui, 9, 3: fehlendes sed, 10, 1: retraxit (te traxit Br Ca Kö1 Pa3 Sg4, te trahit Tr), 12, 1: laboras (labora Br Ca Kö1 Pa3 Tr, laborat Sg4), 12, 2: amenda (emenda Br Ca Kö1 Pa3 Sg4 Tr), frangilitas (fragilitas Br Ca Pa3 Sg4, cupiditas Kö1), 16, 3: clementia (clementiam Ca Kö1 Pa3), 17, 1: duricia (duriciam Ca Kö1 Pa3), 17, 2: malicia (maliciam Ca Kö1 Pa3), 20, 4: liberat (defendat Ca Kö1, defendet Pa3).
29 Vgl. hierfür Strophe 2, 3: ultimus (ultima Tr Ve Wi1), 2, 4: perdes (perdis Br Ve), 5, 3: flectitur (flectetur Kö1 Pa3 Sg4 Ve), 9, 1: terram (terra Sg4 Tr Ve), relinquis (relinques Sg4 Tr Ve).
30 Vgl. Norberg, Vers latins, S. 39-41.
31 Vgl. hierzu v. a. Norberg, Vers latins, S. 39.
32 Vgl. Strophe 1, 1; 4, 4; 5, 3; 8, 4; 21, 1 und 23, 1.
33 Vgl. hierzu Norberg, Vers latins, S. 40-1.
34 Norberg, Vers latins, S. 40.
35 Vgl. Strophe 3, 3; 10, 1; 10, 2 und 20, 3.
36 Für die -zumindest frühmittelalterliche- Gleichsetzung der Palatalvokale e und i und der Velaren u und o vgl. Stotz, HLSMA 10 § 27, 7.
37 Vgl. im Allgemeinen hierzu Norberg, Introduction, S. 56-7.
38 Vgl. meine Hinweise auf die Orthographie der Edition am Anfang der Vorbemerkungen.
39 Vgl. zu Synizese bzw. Dihärese Norberg, Introduction, S. 29-31.
40 Vgl. hierzu auch Stotz, HLSMA 9 § 72.5.
41 Vgl. Chevalier, Rep. hym. 1, S. 87 (Nr. 1446).
42 Vgl. Schaller-Könsgen, ICL, Nr. 1305.
43 Vgl. Dekkers-Gaar, CPL, S. 496 (Nr. 1522), bzw. 498.
44 Vgl. Becker, Literaturgeschichte, S. 108.
45 Vgl. S. 103-11.
46 Vgl. z. B. Strophe 1 («Handle immer klug!»), 2 («Denk' daran, dass du sterben wirst!»), 5 («Erhebe deine Augen, um die Eitelkeiten zu sehen!»), 10 bzw. 17 («Eile, dich zu ändern, bevor es zu spät ist!»), 14 bzw. 23 («Beachte die Gebote Gottes!») und 21 («Diene Gott, da du bei ihm sicher bist!»).
47 Vgl. Die Iren und Europa, S. 482.